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Texte 2019

Susi Seestern und der Geburtstagsstrauß
Anna Lena Gabriel (10 Jahre), München – Junior-THEO
Endlich ist die Seeschule aus! Susi Seestern und ihre Freunde – Quenda Qualle, Otto Oktopus, Fita Fisch und Momo Muschel – machen sich auf den Heimweg. Da fällt Susi plötzlich ein, dass sie noch ein Geschenk für ihre Mutter braucht. „Denn“, erklärt das Seesternmädchen seinen vier Freunden, „meine Mutter hat morgen Geburtstag.“ Und da möchte Susi ihr einen großen See-Anemonenstrauß auf den Geburtstagstisch stellen. 
Otto Oktopus fragt erschrocken. „Willst Du etwa zum Anemonen-Feld hinter dem braunen Tangwald? Da dürfen wir doch gar nicht hin!“ In diesem Meeresbereich lebt nämlich die große Muräne Marta Giftzahn. Vor ihr fürchten sich fast alle Tiefseebewohner. „Und außerdem“, fügt Otto beunruhigt hinzu, „hat Radio Meeresgrund heute in der Früh wieder vor einem heftigen Sturm am Nachmittag gewarnt. Wir sollten also direkt nach Hause schwimmen!“ 
„Aber dann hat Susi doch keinen Strauß“, gibt Momo Muschel zu bedenken. Susi nickt: „Leider hat der letzte Hurrikan mit seinen tobenden Unterwasserwellen das Anemonen-Beet hinter unserem Haus zerstört.“ Also bleibt nichts, als woanders Blumen zu pflücken – finden auch Quenda Qualle und Fita Fisch. Schnell steht der Entschluss fest: die Freunde begleiten Susi. Denn gemeinsam ist der Weg zum Anemonen-Feld nicht so unheimlich und ein Strauß auch zusammen schneller gepflückt! Nur Otto Oktopus schwimmt gleich nach Hause.
Als die kleine Gruppe den Rand des Tangwaldes erreicht, werden alle ganz still. Sollen die Freunde wirklich in die dunkle Algenwelt eintauchen? Ja – wegen des Geburtstagsstraußes und schließlich helfen Freunde einander! Unheimlich ist es aber schon zwischen den Algen. Hier herrscht ungewohnte Stille. Doch die wird plötzlich von einem Rauschen unterbrochen, das sich schnell nähert. „Oh weh!“, flüstert Fita Fisch ihren Freunden zu. „Das kann nur die Muräne Marta Giftzahn sein. Einmal hat sie bei ihrer Jagd fast meine Oma erwischt. Mit letzter Not konnte sie sich damals in die Blüte einer Seenelke retten.“ Jetzt heißt es also für die vier Freunde: Flossen in die Hand nehmen und schnell durchs Dickicht verschwinden. Im Zickzackkurs flitzen sie an den alten Algenstämmen vorbei. Die Muräne folgt ihnen auf dem Fuß – sie sieht zwar ohne ihre Brille schlecht, riecht und hört aber ihre Beute hervorragend. „Da ist der Waldrand“, ruft Quenda Qualle erleichtert. Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass die Muräne Fita Fisch bedrohlich nahe gekommen ist.
„Zum Glück hat Marta ihre Brille nicht auf“, denkt auch Susi, die beobachtet, wie die Muräne wieder und wieder erfolglos nach Fita Fisch schnappt. Dann brechen die Freunde, die sich an Flossen, Fäden und Muschelschale halten, aus dem Algendickicht heraus. Sie sind total aus der Puste. Für einen Moment ist es hell um sie. Mit einem Mal wird es jedoch stockdunkel. Sand wirbelt umher. So dicht, dass sie sich gegenseitig kaum noch sehen. Das Wasser tobt. Kopfüber, kreuz und quer schleudern gewaltige Tiefseewellen die Freundeskette. „Festhalten“, schreit Fita Fisch, deren Flosse aus Momos Muschelumklammerung zu rutschen droht. 
„Das muss der Hurrikane sein, von dem Otto im Radio gehört hat,“ brüllt Susi Seestern zurück. Die Flucht vor der Muräne hat viel Zeit gekostet. Während Susi Seestern noch darüber nachdenkt, verspürt sie einen dumpfen Schlag. Ein abgerissenes Riffstück hat die Gruppe getroffen. Vorsichtig öffnet Susi die Augen. Es dämmert bereits. 
„Wo bin ich?“, fragt sie sich. „Wo sind Quende, Fita und Momo?“ Da vernimmt Susi ein dreistimmiges Jauchzen.
Sie kann ihre Freunde fidel zwischen hohen grünen Orchideenstängeln Slalom schwimmen sehen. Fita Fisch entdeckt als erste, dass Susi Seestern erwacht ist. Schnell kommen alle drei zu dem Bett aus Seegras, auf das sie ihre ohnmächtige Freundin gebettet haben. 
„Uns hat alle ein großes Riffstück getroffen und wir sind vom wilden Wasser hierhin gespült worden“, erklärt Momo Muschel. 
„Ich schätze, es ist das ferne Unterwasser-Orchideenfeld“, fügt Qenda Qualle hinzu. „Mein Vater erzählt oft von diesen strahlenden Blumen. Es soll weit weg von zu Hause sein!“
Guter Rat ist jetzt teuer. Einen schönen Strauß können die Freunde zwar schnell zusammenstellen, aber wie finden sie wieder heim? Fita ist beunruhigt: „Hoffentlich suchen uns unsere Eltern! Ich habe nämlich keine Ahnung, in welche Richtung wir müssen.“ 
„Aber wie sollten sie uns finden?“, meint Momo, „sie wissen ja nicht wo wir sind!“
Mittlerweile wird es dunkler und dunkler im Orchideenfeld. Mit der Dunkelheit kehrt auch Kälte ein. Die Freunde frieren jetzt und haben immer größere Angst. 
„Ich würde jetzt so gerne in meinem kuscheligen Seegrasbett zu Hause liegen und das Märchen Muschelkäppchen lesen!“, klagt Quenda weinerlich. 
„Ich auch!“, gibt Fita ihr recht. 
Mit einem Mal sehen die Freunde ein Licht, das näherkommt. Und sie hören ihnen vertraute Stimmen ihre Namen rufen: „Wo seid ihr?“ 
„Hier inmitten der Orchideen“, antworten die Vier erleichtert. Denn schon sehen sie Otto und ihre Eltern im hellen Schein unzähliger Lampion-Fische auf sich zu schwimmen. „Endlich! Da seid ihr ja“, rufen die Eltern und Otto Oktopus. „Wir suchen Euch seit Stunden!“ 
„Wie habt ihr uns gefunden?“, fragen die sichtlich erleichterten Freunde.
 „Als ich nach Hause gekommen bin“, erklärt Otto Oktopus, „da hat es schon ziemlich gestürmt und ich habe meiner Mutter von eurer Exkursion berichtet.“ Ottos Mutter hatte sogleich alle anderen Eltern alarmiert. Trotz des aufkommenden Sturms und der außergewöhnlich starken Strömungen brachen sie zusammen auf, um ihre Kinder zu suchen. 
„Zum Glück ist auch Siegfried Schwertfisch mitgekommen“, ergänzt Otto. Denn er konnte im Tangwald Muräne Marta Giftzahn in Schach halten. „Außerdem wurde uns auf der anderen Waldseite unverhofft ein Taschenkrebs vor die Flossen gespült.“ Und der konnte den Suchenden die ungefähre Richtung angeben, in die der wirbelnde Sand die kleine Gruppe mitgenommen hatte.
Die Wiedersehensfreude ist riesig. Und nachdem es auch schon etliches nach Mitternacht geworden ist, singen alle ein Geburtstagslied für Susis Mutter. Ihr stehen Freudentränen in den Augen, als sie sagt: „Der Strauß ist zwar wunderschön, aber dass wir euch wiedergefunden haben, das ist das beste Geburtstagsgeschenk für mich überhaupt!“ Und dann nimmt sie den fünf Freunden ein Versprechen ab: Vor großen Stürmen sollen die Kinder nie wieder Wagnisse auf eigene Faust eingehen. Denn Naturgewalten sind unberechenbar und folgen ihren eigenen Gesetzen – über der Wasseroberfläche und darunter. Und es kann tragisch enden, wenn man meint, man sei stärker und klüger als die Natur und hätte alles im Griff.

Vor dem Sturm
Julian Horst (10 Jahre), Hannover – Junior-THEO (Lyrik)

Vor dem Sturm,
so spricht der Wurm,
ist alles still,
weil niemand will,
dass der Sturm
den armen Wurm
an den Fischerhafen weht,
wo schon der böse Fischer steht.
Weil der Wurm sonst hängt am Haken
und sich streiten tun die Kraken
um den leckeren Miniwurm.
So machen’s Kraken vor dem Sturm.

Vor dem Sturm
Noah Langowski (11 Jahre), Rom – Prosa (10-12)
Langsam flog ich durch die Luft. Ich spürte, wie der Wind an mir vorbei wirbelte. Ich sah die Berge mit ihren weißen Spitzen von oben und spürte nichts als Glück. Auf einmal schoben sich die Berge auseinander und meine Mutter sprang in die Luft. Sie packte mich und zog mich in die Tiefe.
„Aufwachen Noah! Aufwachen!“, rief meine Mutter immer wieder. 
 „Ist ja gut, ich bin wach!“, gähnte ich müde. Dann fragte ich: „Warum weckst du mich so früh? Ich dachte, es sind Ferien.“
„Ja, ja!“, musste meine Mutter zugeben. „Aber ich wollte dich nur pünktlich zum Frühstück wecken, weil du das letzte Mal gemeckert hast.“ 
Sofort sprang ich auf, machte mich fertig und frühstückte. Gleich darauf verließ ich das Haus und rannte zum Altersheim. Ich sah mich um: Dieser Teil der Welt ist so grau. An den anderen Seiten der Erde ist alles bunt, erzählen sich die Menschen hier untereinander. Käme ich doch irgendwie von hier fort! Vielleicht denkt ihr Euch jetzt, dass es doch ganz einfach wäre und ich nur ein Flugzeug nehmen müsste, aber in meiner Welt gibt es diese Dinge nicht. 
Keuchend kam ich beim Altersheim an. Ich stolperte hinein und spurtete das ewige Treppenhaus hoch. Wenig später stand ich schon vor der passenden Tür, auf der ihr Name stand. Ich klingelte. Dann ging langsam die Tür auf. Mir in die Augen blickte Uroma Heidi. „Welch eine Überraschung!“, rief die 104-jährige Frau, „komm doch herein.“ 
Schon saßen wir an dem kleinen runden Tisch. Ich schaute meine Uroma genauer an. Sie war wirklich schon alt. 104 Jahre sind eine lange Zeit! „Uroma Heidi“, rief ich. „Ich habe schon wieder davon geträumt. Erzähl es mir doch bitte nochmal!“ 
Uroma Heidi flüsterte: „Ich habe immer noch das Rauschen im Ohr. Ich flog an Häusern vorbei! Ach, war das schön! Es hat mich in die Höhe geblasen! Mit dem Drachen in der Hand ging es los! Ich flog dahin, wo ich wollte!“ 
Erst später erkannte ich, dass in diesem Moment das größte Abenteuer meines Lebens beginnen sollte. Im Fernseher von Uroma Heidi läuft eigentlich immer nur langweiliges Zeug, bis der Reporter sagte: „Guten Tag, alle zusammen. Riesige Neuigkeiten stehen vor der Tür. Nach 99 windstillen Jahren kommt nun ein Sturm immer näher- er bietet allen Abenteurern die Möglichkeit, sich für eine Woche aus dem Dorf heraus wirbeln zu lassen, um die bunte Welt zu sehen. Ich danke für die Aufmerksamkeit.“
„Jippie!“, rief ich. 
„Ich traue meinen alten Ohren nicht! Was hat er gesagt?“, fragte Uroma Heidi. 
„Ein Sturm kommt!“, jubelte ich. Noch nie hatte ich mich so glücklich gefühlt. „Uroma, es ist jetzt Zeit, dass ich nach Hause gehe.“ 
Doch da hielt mich Uroma Heidi noch kurz auf. „Nimm diesen Drachen“, sagte sie. In ihrer Hand hielt sie den größten, buntesten Drachen, den ich je gesehen hatte. „Danke!“, freute ich mich „ Aber fliegst du denn nicht mit?“ 
„Ach, ich bin zu alt fürs Fliegen. Ich habe das Abenteuer meines Lebens bereits erlebt“, sagte Uroma Heidi. Dann gab ich ihr einen Kuss auf die faltige Backe und ging. 
 Als ich die Straße betrat, sah ich, dass nicht nur ich so glücklich war. Überall entdeckte ich Plakate vom Sturm, Zeitungen über den Sturm oder die Leute hingen Schilder auf, auf denen stand: ,WILLKOMMEN STURM!` oder DAS GLÜCK IST DA!`. Außerdem lief ich an vielen Drachenständen vorbei. Es war einfach herrlich! Auf den Balkonen hörte ich Leute rufen: ,,Komm Sturm! Komm Sturm!“
 Jemand hatte sogar ein Lied über den Sturm der Freiheit geschrieben und sang es laut vor sich hin. Ich genoss alles um mich herum: Die fröhlichen Freuderufe der Menschen, das Sturm-Lied - so sollte es hier immer sein! 
Auf einmal wurde alles durch ein lautes „Es wird sicherlich gefährlich!“ unterbrochen. Als ich mich umsah, entdeckte ich eine Gruppe Dorfbewohner mit besorgten Gesichtern herbeieilen.
„Es ist sehr riskant, man kann abstürzen!“, rief einer panisch.
„Genau, und wenn man abstürzt wird`s tödlich!“, schrie ein anderer.
„Wer weiß, was uns auf der anderen Seiten erwartet?“, fragte ein dritter. Wurde die Gruppe der Zweifelnden etwa immer größer? Verzweifelt zupfte ich den Leuten an den Ärmeln und versuchte sie zu überzeugen, dass sie mit ihren Ängsten falsch lägen. Aber niemand nahm auch nur ein Wort von mir wahr. Die Jubelnden, die soeben auf den Balkonen gefeiert hatten, verschlossen ihre Fenster und machten die Rollläden runter. Immer mehr schrien durcheinander. Langsam kroch auch in mir die Angst hoch, also hielt ich mir fest die Ohren zu, so fest es nur ging. Ich beobachtete, wie etliche verstohlen ihre Drachen zurück an die Stände legten. Ein Mann mit schwarz gelockten Haaren versuchte sogar, mir den Drachen mit den Worten: „Lass es lieber bleiben!“, aus der Hand zu reißen. 
Mitten in diesem Tumult begannen plötzlich die Erwachsenen ihre Kinder zu suchen. „Hilfe, wo sind unsere Kinder?“, fragten sie ängstlich durcheinander. Ich schaute mich um. Da sah ich es. Auf der Straße saß Uroma Heidi in ihrem Rollstuhl. Um sie herum hockten in einem Kreis die ganzen Kinder.
„Ich sah unter mir den Fluss glitzern…“, erzählte sie geheimnisvoll. Die Kinder hörten aufmerksam zu. Langsam näherte ich mich, die Erwachsenen taten das Gleiche. „Ich fühlte mich frei“, schwärmte sie mit leuchtenden Augen. Leise setzte ich mich dazu. 
Als Uroma Heidi mit ihrer Erzählung fertig war, stand das ganze Dorf um sie und lauschte. Die Erwachsenen staunten, die Kinder waren begeistert und ich war stolz auf meine Uroma. „Warum wollen wir eigentlich nicht fliegen?“, fragten die Erwachsenen. „Was sind wir eigentlich für Angsthasen?“, lachten sie „am Ende verpassen wir noch das Abenteuer unsres Lebens! Komm Kind, wir holen uns deinen Drachen zurück!“  
Dann ging es los. Der Wind frischte auf und die Ersten flogen voller Freude los. Als auch ich in die Luft steigen wollte, hielt mich Uroma Heidi noch mal auf. „Denk während deines Abenteuers an mich“, sagte sie.
„Mach ich!“, rief ich und umarmte sie das letzte Mal. Ich merkte, wie immer mehr Böen aufzogen. Fest umklammerte ich meinen Drachen mit beiden Händen, schloss die Augen und spürte, wie meine Füße vom Boden abhoben…


Substanzierung einer Beziehung vor dem Sturm (stark gekürzt)
Lotti Spieler (14 Jahre), Berlin – Prosa (13-15)
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Arvid
Marlena Wessollek (17 Jahre), Eberswalde – Prosa (16-18)
Arvid besucht uns meist, wenn er wütend ist.

Von draußen klopft er gegen die Fensterscheibe.
Wir sitzen drinnen erstarrt am Esstisch.
Bei seinen Besuchen bringt Arvid eine Kälte mit sich. In unserer Küche lässt er es schneien.
Weiße Flocken fallen auf den Esstisch, eine weiße Decke zieht sich über unsere Schöße. Wir frieren nicht.
Arvid kommt nie herein. Er steht vor dem Fenster und beobachtet uns. Wenn die letzten
Flocken gefallen sind, geht es von vorne los. Wir lassen uns durch Arvid nicht irritieren. Vater
führt seinen Löffel immer genau gleich zum Mund, Mutter breitet eine Serviette auf ihrem
Schoß aus, Schwester sitzt gesittet auf ihrem Platz. Der Schnee landet in der Suppe.
Arvids Zorn beeindruckt uns nicht. Wenn es ihn zu sehr langweilt, lässt Arvid es in der
Nachbarschaft schneien. Große Stürme fegen über die Fichtenwälder und umwirbeln den
Bahnhof mit der Eisenbahn. Je länger Arvid uns durch das Fenster beobachtet, desto
entspannter wird er.
Wir sagen nichts. Vater führt den Löffel zum Mund, Mutter breitet ihre Serviette aus,
Schwester sitzt gesittet auf ihrem Platz. Schweigen umgibt uns. Wenn Arvid mit uns redet,
schallt es dumpf durch die Scheibe. Wir verstehen ihn nicht.
Arvid besucht uns oft.
Dass er auf Ignoranz trifft, stört ihn kaum.
Selten kommen Freunde von Arvid. Sie sind nie zornig. Doch auch sie bleiben stets draußen
und auch sie haben etwas Kaltes. Arvid und seine Freunde bringen unsere Welt
durcheinander. Durch unsere Küche weht eiskalter Wind, der uns die Schneeflocken ins
Gesicht bläst. Durch das Fenster bewundern sie ihr Werk.
Mutter zupft emotionslos ihre Serviette zurecht. Vater löffelt seine Suppe, Schwester rührt
sich nicht. Hinterher ist alles wie vorher.
Wenn Arvid gegangen ist, taut der Schnee nicht. Der Esstisch ist unter dem Weiß verdeckt,
wir tragen eisige Kronen und sprechen einander nicht an.
Meist kommt Arvid schnell zurück.
Arvid hat oft Streit zuhause. Dann flüchtet er sich stets zu uns. Wir sind seine Gesellschaft.
Durch uns hat er seine Wut im Griff. Er betrachtet uns gern.
Arvid besucht uns heute, denn er ist wütend.
Durch das Glas sehen wir sein rot angelaufenes Gesicht. Adern pulsieren an seiner Stirn.
Erzürnt schreit er und rennt vor der gewölbten Scheibe herum. Schneeflocken schlagen uns
mit aller Härte ins Gesicht.
Es tut nicht weh.
Arvid schreit nun direkt in unsere Küche hinein.
Im Umland schneit es wie nie zuvor.
Arvid beeindruckt uns nicht. Vater pustet auf den Löffel, um die heiße Suppe zu kühlen.
Mutter schützt ihren Schoß. Schwester blickt sanft in die Runde. Arvid fühlt sich provoziert.
Er fuchtelt mit den Händen und schlägt wild um sich. Wir hören ihn nicht. Wir nehmen ihn
nicht ernst.
Arvid reißt uns den Boden unter den Füßen weg.
Wir segeln im Sturm durch die Luft. Wir landen. Die Schneekugel bricht. Auf dem Boden
zerschellt ihr Glas, unser Küchenfenster liegt in Scherben.
Nichts trennt uns mehr von der Außenwelt.
Die Schneeflocken fallen der Schwerkraft wegen abrupt. Der Schnee schmilzt. Unsere Küche liegt in einer Pfütze und zwischen Glassplittern auf Arvids Teppich. Vater in der
Waagerechten hat den Löffel erhoben. Mutter hat den linken Arm verloren, Schwester
schweigt.
In Arvids Zimmer ist es kalt seit dem Vorfall.

Der einzige Sohn
Shahzamir Hataki (18 Jahre), Berlin – Lyrik
65 Menschen waren auf dem Boot
Der Schleuser deutete auf den Berg 
Dort ist Griechenland, sagte er. 

Das Wasser stürzte auf uns herab wie Wände
Der Motor blieb stehen
Es gab viele Kinder auf dem Boot
Das Boot kippte um. 

Ich kann nicht schwimmen. 

Zwei Minuten lang blieb ich unter Wasser
bis mich die rote Rettungsweste an die Wasseroberfläche zog
Ich hatte panische Angst.

Es war bitter kalt
alle schrien, ich auch.
Vor mir war ein Kind. 

Ich tröstete es. 
Du musst nicht weinen,
belog ich auch mich selbst.

Eine Mutter ertrank vor meinen Augen,
ihr Kind im Arm 
Zwei Stunden, dann kam das Boot
um uns zu retten
20 Menschen hatten überlebt
Die kleinen Kinder waren alle tot. 

Ein Junge in meinem Alter 
saß auf dem Rettungsschiff
und schrie ununterbrochen

Mutter, Mutter!
Ich fragte ihn: Wieso weinst du?

Er sagte, seine Familie, sieben Menschen
seien gestorben
Ich fragte mich, wer hätte meinen Eltern wohl Bescheid gesagt, wenn ich im Meer ertrunken wäre
Ich bin der einzige Sohn.

Die Ärzte warteten auf uns
Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten
Sie bargen nur acht Tote
Wir Überlebenden kamen ins Krankenhaus

Ich schlief acht Tage und acht Nächte
und jeder Tag schien mir wie ein Jahr

Als ich losfuhr aus der Türkei verließ hatte ich 100 Dollar,
die waren mir im Meer verloren gegangen.

Am 20. Tag rief ich zu Hause an.

Meine Mutter fragte: Wieso hast du dich nicht gemeldet?
Drei Tage habe ich nichts gegessen vor Sorge.
Ich sagte, ich sei wohlbehalten angekommen
hätte nur das Geld für das Telefon nicht gehabt.

Wie hätte ich ihr sagen sollen, dass ich
zehn Tage lang nur Kakao zu mir nehmen konnte, weil
mein Körper voller Salzwasser war?

Übersetzung aus dem Persischen von Aarash D. Spanta

Damaskus
Rojin Namer (16 Jahre), Berlin – SprachRäume
Wie kann ich Damaskus beschreiben? 
Wie kann ich denjenigen, die es nicht kennen, das Paradies beschreiben?
Das Herz Syriens. 
Meine Seele. 
Die Hoffnung der Anderen. 
Das ist Damaskus. 

Wo Kriege toben. 
Wo Bomben täglich fallen. 
Wo Menschen unter der Herrschaft der Angst leben. 
Das ist Damaskus. 

Wovon ich jeden Tag träume. 
Wo meine Wurzeln liegen. 
Das ist Damaskus. 

Wo ich die Schuldigen nach den Schuldigen frage. 
Wo keine Medizin das Blut aufhalten kann. 
Das ist Damaskus. 

Dort, wo die Touristen überall hin strömten.
Dort, wo jetzt die Straßen zerstört liegen. 
Dort, wo Blut fließt. 
Ach, mein Damaskus. 

Ich sehne mich nach deinen Straßen. 
Ich sehne mich nach deinen Lichtern.
Ich sehne mich nach deinen Liedern,
die wir jeden Morgen hören. 
Ich sehne mich nach deinen Nächten,
den warmen, den lebensvollen. 
Das ist Damaskus. 

Die Stadt voller Liebe
ist eine Stadt voll Blut. 
Das Paradies
ist ein Schlachtfeld geworden. 

Wo Tränen fließen vor Verzweiflung.
Vor Angst
und nicht vor Freude. 
Das ist Damaskus. 

Mein Damaskus. 
Ich will, dass du zurückkommst. 
Zurückkommst zu mir. 

Übersetzt aus dem Arabischen von Sandra Hetzl